Die Schweiz ist kein Kleinstaat und auch keine Willensnation

Antwort an einen Freund

Zum Start ein Beitrag, den ich im Mai an einen Freund geschickt habe, als Antwort auf den NZZ-Artikel von Eric Guyer anlässlich der Generalversammlung der NZZ AG am 6. April 2019, den er mir als lesenswert zugestellt hat.

Meine Stellungnahme dazu

Die Schweiz ist kein Kleinstaat und auch keine Willensnation – meine Gedanken dazu

Der NZZ-Artikel von Eric Gujer vom 11. April 2019 mit diesem Titel hat mich veranlasst einige Gedanken zu diesen und damit verbundenen Themen zu machen. Mein Leben hat mich durch die Welt geführt und ich liess mich nicht in der Alpenrepublik einsperren, deshalb finde ich die oben erwähnte Analyse zu europaorientiert, mutlos und nicht weltoffen.

Ich glaube, dass die Geschichte einer Nation wichtig für das Verständnis der aktuellen Situation und deren weiteren Entwicklung notwendig ist. Dazu gehören in allen Nationen, Völkern und Religionen Mythen als Kitt. Bei einigen gehen diese Jahrtausende zurück, z.B. die aktuellen grossen Weltreligionen, China, Europa, bei anderen liegen viel kürzer zurück (z.B USA Befreiungskrieg gegen England oder Bürgerkrieg). Ich habe deshalb keine Probleme mit «historischen» Gestalten aus den Urzeiten, sie bereichern die Geschichte und machen sie attraktiver.

Die ersten 100 Jahre der Schweiz (nach der Gründung 1291/1307) waren geprägt durch die Erweiterung von 3 Ständen auf 8 Stände und die Verteidigung gegen aussen (Österreich und Burgund). Dann folgten 100 Jahre einer aktiven Expansionspolitik in Zentraleuropa gegen die Schwaben, Savoyer und die Kräfte in Norditalien. Deren Grenzen wurden den «Eidgenossen» dann 1515 in Marigiano aufgezeigt, und es folgte die Zeit der neutralen Position und der Pflege der Beziehungen. Die Geografie bot nicht viele Optionen, einen gewissen Wohlstand zu erlangen. Neben Transitgebühren blieb fast nur sich für fremde Dienste anheuern zu lassen (Reisläuferei in fremden Heeren, Schutztruppen für Papst und Königshäuser, Service an ausländischen Höfen und Aristokratenfamilien wie als Koch, Kaminfeger, etc.). Dies ermöglichte es dem Kleinstaat, zwischen den Grossen zu prosperieren. Im Rahmen des westfälischen Friedens wurde 1648 dann formell die Neutralität erklärt, die heute noch im wesentlichen Bestand hat.

1848 konnten die Freisinnigen gegen den Widerstand der Konservativen die moderne Schweiz formen und das Fundament einer wirtschaftlich starken Schweiz auch ohne Bodenschätze, Meeranstoss und Kolonien schaffen. Die Neutralitätspolitik half der Schweiz, sich aus mehreren Kriegen in Zentraleuropa vermeiden und sich als Vermittler zwischen Staaten in Europa und der Welt zu etablieren.

Warum Herr Gujer sagt, die Schweiz sei keine Willensnation, verstehe ich nicht. Gemäss den von mir gefundenen Definitionen für «Willensnation» ist die Schweiz mit den verschiedenen Sprachen, Kulturen und Religionen geradezu ein Paradebeispiel. Die Bezeichnung hat für mich jedoch keinen grossen Stellenwert.

Hingegen stimme ich mit dem Autor überein, dass die Schweiz wirtschaftlich und ausbildungsmässig, kein Kleinstaat geblieben ist. Sie war in der Lage, ausserordentliche Produkte und Services auf dem Weltmarkt anzubieten und dadurch zu einem der höchsten globalen Lebensstandards zu kommen.

Von Escher und seine Kollegen, die mit ihren Visionen die moderne Schweiz formten, waren Helden. Von dieser Pionierwelt ist heute leider nicht viel geblieben, wie auch im Artikel erwähnt wurde. Die Schweiz will sich zu stark Europa anpassen.

Im weiteren teile ich die Ansicht von E. Gujer, dass wir selbstbewusst und optimistisch und nicht defensiv in die Zukunft gehen sollten.

Aber ich finde weder Selbstbewusstsein noch Zukunftsoptimismus in der EU! Europa ist in vielen Bereichen noch defensiver und pessimistisch als die Schweiz. Man hat Angst vor Neuerungen, träumt vom vergangenen kolonialen Wohlstand und baut übervorsichtig unnötige Barrieren auf. Europa und teilweise auch die Schweiz verfolgen eine «Ballenberg» - Strategie, erhalten des Alten, für die asiatischen Touristen?

Man koppelt sich von einigen globalen Strömungen ab und riskiert den wirtschaftlichen Abstieg.

Mit den Prämissen, nirgendwo einen «Rückschritt» zu machen, weil man glaubt, das Ei des Kolumbus gefunden zu haben, will man internationale Handelsverträge abschliessen. Dies ist zum Scheitern verurteilt. Internationale Verträge sind immer Kompromisse und basieren auf den jeweiligen Kräfteverhältnissen und nicht gesellschaftlich gewünschten Zwängen der einen Seite. Nach asiatischem Verständnis ist ein Vertrag nur solange gültig, bis sich die Kräfteverhältnisse verschoben haben. Europa versucht, nach dem Verlust der kolonialen Macht ein System regelbasierender liberaler Demokratien und westlich definierter Rechtstaatlichkeit durchzusetzen. Darüber besteht aber kein globaler Konsens. Immer mehr Staaten scheren aus schon fixierten Regeln aus.

Nach meinem Eindruck besteht in Europa die Ansicht, ein gemeinsamer Markt bestehe hauptsächlich aus dichten, umfassenden, detaillierten und unflexiblen Regelungen. Gleiche Regeln von Sizilien bis zum Nordkap, von Portugal bis ans Schwarze Meer. Und diese müssen mindestens in Abkommen mit Aussenstehenden übernommen werden (keine genmodifizierten Produkte, Lebensmittelstandards, gleiche oder höhere Sozialstandards, sehr vorsichtiges Vorgehen bei 5G, KI, …!). China und Asien gehen viel flexibler mit Regelungen um, gehen nach try and error Methoden vor und haben nicht den Anspruch, alles über einen Leisten zu schlagen. Für regionale unterschiedliche Lösung ist genügend Raum, wie auch teilweise in der Schweiz.

Ja, die Schweiz liegt mitten in Europa und EU, ist (noch) deren grösster Handelspartner und muss sich deshalb mit dem geographischen Umfeld arrangieren. Die EU mit ihren 500 Mio. Bürgern in 27 (28) Staaten wird aber noch länger mit sich selbst beschäftigt sein und viel Energie für eine gemeinsame oder nicht gemeinsame Basis investieren, während in anderen Weltregionen wirtschaftliche und technologische Entwicklungen zügig weiterlaufen.

Aus meiner Optik sollten wir uns viel stärker an Partnern ausserhalb Europas orientieren. Die 5 Milliarden Menschen auf dem asiatischen Kontinent sind der Wirtschaftsmotor der Zukunft, denn dort herrscht eine selbstbewusste optimistische Aufbruchstimmung. Eine aus meiner Sicht gute Situationsanalyse ist das neue Buch des Inders Parag Khanna «The Future is Asia».

Ich habe vor Jahren schon die provokative Meinung vertreten, die Schweiz solle der ASEAN und nicht der EU beitreten. Ein starker Fokus nach Osten ist nach meiner Meinung immer noch richtig. Die neutrale Schweiz könnte ja Vermittler zwischen Okzident und dem neuen Orient sein! Dies scheint aber zurzeit in der Schweiz bei weitem nicht mehrheitsfähig zu sein. In meinem Berufsleben war ich aber immer bestrebt, nicht Standardlösungen der Heimatbasis zu übernehmen, sondern die jeweils lokale Kultur zu integrieren.

Schlüssel für die Zukunft ist eine top Ausbildung und Offenheit mit globalen Trends. Im Hightech Bereich ist nicht die EU der Konkurrent, sondern die USA und Asien (zurzeit China, Japan). Die Schweiz sollte eine vernünftige Distanz zur EU halten und Services und Produkte anbieten, die dort nicht einfach zu erbringen sind.

Dazu gehört auch, sich nicht in eine Position der Erpressbarkeit driften zu lassen. Z.B sollte die Schweiz, bei der in der Zukunft noch wichtigeren elektrischen Energie, in die Position eines CO2 Exportlandes kommen (Wind-, Sonnen-, Geothermik-, Nuklearenergie der 3,5 und 4 Generation, …). Leider scheint die Schweizerbevölkerung diesen Schritt nicht zu wollen, sieht überall nur Gefahren.

Bleibt wirklich nur die Variante Grossballenberg?!

Neueste Kommentare

20.05 | 16:23

Besser habe ich noch keine der vielen Erklärungen zur Blockchain Technologie und den Kryptowährungen berstanden als die obige! Vielen Dank - Ruedi

16.12 | 11:03

Lieber Bernhard - Hab Dank für diesen sehr Informativen Erfahrungsbericht! Vieles was Du beschreibst, deckt sich mit meiner eigenen Berufserfahrungen. Im In- sowie vor allem auch im fernen Ausland!

03.10 | 09:36

Super die Bilder und die Berichte. Wir verfolgen eure Reise mit Interesse. Einige Orte sind mir noch in bester Erinnerung.
Liebe Grüsse
Toni und Erika

02.10 | 08:00

Hallo zusammen. Wir lesen euren Blog mit viel Interesse da wir all die Orte auf unseren 4 Costa Rica 🇨🇷 Reisen kennengelernt haben. Ein wunderschönes Land mit prächtiger Natur. Gute Weiterreise. Lisbet