Schaffen wir die Herausforderungen der Zukunft mit der heutigen westlichen Demokratie? Wo stossen die demokratischen Systeme des Westens an ihre Grenzen?

Vorwort

Wie wollen bzw. sollen wir zusammenleben, um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bewältigen? Diese Fragen beschäftigen mich seit längerer Zeit. Darüber, wie das Zusammenleben organisiert werden soll und welche Regierung dafür notwendig ist, haben sich Menschen seit Jahrtausenden Gedanken gemacht. Wegbereiter waren viele Philosophen, die sich meist auch mit Naturwissenschaften befassten, denn bis zur Aufklärung wurde kaum unterschieden zwischen den Wissenschaftsbereichen. Sie machten sich Gedanken zu neuen Zusammenlebensformen der Menschen, erarbeiteten neue Ansätze und brachten diese in die wachsenden und komplexeren Gesellschaften. Seit ein paar Wochen arbeite ich mich durch die abendländische Philosophie-Geschichte des deutschen Philosophen Richard Heinrich Precht - 2500 Seiten zum Verdauen!In diesem Aufsatz konzentriere ich mich auf die aktuellen Herausforderungen und Zukunftschancen an die westlichen Demokratien.

Deshalb zuerst eine sehr kurze Herleitung der abendländischen Kultur bis zum heutigen Tag. Ich versuche die Ursachen zu verstehen, die zur heutigen Verunsicherung geführt haben. Die Ansprüche an die Organisation von Gesellschaften und damit auch an die westlichen Demokratien sind in den letzten Jahren gewaltig gestiegen, und persönlich habe ich Zweifel an der Zukunftsfähigkeit des heutigen «aktuellen» westlichen Systems. Es ist so kompliziert geworden, dass es sich selbst blockiert. Neue Ansätze sind notwendig.

Vergleiche mit anderen heutigen Kultur- und Regierungssystemen, in denen die anderen 85 % der Menschheit leben, möchte ich in diesem Essay nicht anstellen. Ich beschäftige mich aber auch intensiv mit anderen Gesellschaften, die mit ihren eigenen Ansätzen Lösungen für ihre zukünftigen Herausforderungen suchen. Teilweise ist dort die Veränderungsgeschwindigkeit noch höher.

Der Erste Schritt ist immer eine gute Ist-Zustands Analyse. Ich habe nicht den Anspruch, Empfehlungen für zukünftige Handlungen auszusprechen, sondern ich möchte die heutige Situation besser begreifen und nicht dauernd von neuen Entwicklungen überrascht werden. Ich habe mich mental damit abgefunden, dass wir in einer Zeit von grossen globalen Wechseln und Machtverschiebungen leben. Wir stochern sicher mehr im Nebel herum als in den letzten 70 Jahren, in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg.

Aktueller Vorspann

Aus aktuellem Anlass greife ich ein wenig vor, denn zurzeit erleben wir eine der grossen globalen Erschütterungen, die immer wieder gefühlt überraschend, aber statistisch als normales Ereignis, auftreten werden und ganze Regionen oder wie jetzt die ganze Welt betreffen, die Covid 19 Krise.

Für mich hat die globale Lösung einer sachlichen Notsituation unverständlicherweise zu einer Auseinandersetzung über das richtige politische System geführt. Jede Regierung versucht mit der Beschuldigung von anderen von den eigenen Unsicherheiten abzulenken.  Im Westen argumentieren Regierungen immer, dass sie stark auf die demokratischen Prozesse Rücksicht nehmen müssen. Dabei haben viele Länder Notstandsgesetze, die ein rasches effektives Durchgreifen erlauben würden, die sie aber nur sehr zögerlich anwenden.
Für mich ist diese Situation einer Pandemie ungeeignet, die politische Systemfrage in den Vordergrund zu stellen. Krisensituationen unter grossem Zeitdruck verlangen meiner Meinung eine direkte Führung mit schwachen demokratischen Entscheidungsprozessen. Richtig ist, dass es der Legislative vorbehalten ist zu bestimmen wann, unter welchen Bedingungen, welcher Krisenfall ausgerufen werden kann und was die Rahmenbedingungen für den Notstand sind. Ist die “ausserordentliche Lage”, wie sie in der Schweiz für eine Pandemie definiert ist, einmal ausgerufen, dann ist es die Aufgabe der zuständigen Exekutive, aggressiv eine Lösung innerhalb der definierten Grenzen zu suchen. In einem Krieg ist es der Oberbefehlshaber einer Armee. Im aktuellen Pandemiefall, der ja von Staatschefs auch als Krieg gegen die Viren erklärt ist, liegen die Kompetenzen bei der obersten Exekutive. Sie soll Wissen und Informationen von Experten einholen, entscheiden, anordnen, die Beschlüsse konsequent durchsetzen, die Entscheidungen bei all den Betroffenen begründen und den Durchhaltewillen zu bestärken, was natürlich nie zu 100 % erreicht werden kann. Allgemeine Mitsprache binden in der Regel zu viel Energie und Zeit. Manchmal gibt es mehrere Wege zur Zielerreichung, aber wichtig ist, den eingeschlagenen Weg konsequent durchzuziehen. Nur in Ausnahmefällen, wenn die Zielerreichung unmöglich erscheint, soll der Weg geändert werden.  Manöverkritik kann man am Schluss machen, es sei denn, die Situation läuft aus dem Ruder und erfordert einen Wechsel in der Krisenleitung.
Ein Schleuderkurs sollte wenn immer möglich vermieden werden. In der Geschichte finden wir viele Beispiele von Persönlichkeiten, die Krisen mit Bravour bewältigt haben.
Aber nun zurück zu den Hauptfragen nach den Grenzen der heutigen westlichen Demokratien und nach den neuen Herausforderungen. Die heutige Covid-19 Situation ist nur ein «kleines» Beispiel, weitere ähnliche Situation werden mit Bestimmtheit in der Zukunft auftreten. Wir werden sehen, dass wir Organisations- und Führungsstrukturen benötigen, die zeitnah zu guten Entscheidungen führen und keinen Entscheidungsstau aufbauen.
Beginnen wir mit der Geburt der «westlichen» Welt vor bald 2500 Jahren.

Die abendländische Geschichte in wenigen Schritten

Die Geschichte des Abendlandes beginnt mit der griechisch/römischen Kultur, die im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung im antiken Griechenland ihre Wurzeln hat. Im  2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung wurde sie mit dem Christentum verwoben, welches dann die Zeit des Mittelalters prägte. Damals wirkten auch Einflüsse aus dem arabisch islamischen Kulturkreis, worauf ich aber hier nicht eingehe.
Bis zur französischen Revolution waren Monarchien (Kaiserreiche, Königreiche, Fürstentümer und Theokratien wie das(Papsttum) die vorherrschende Staatsform. Im Kleinen und über kurze Zeiten gab es auch Versuche mit mehr Bürgerbeteiligung, z.B. in Athen, in der römischen Republik, in der Eidgenossenschaft, in England durch die Einführung des Parlaments unter einem/r König/in. In all diesen Fällen hatten nur die Aristokraten das Sagen.
Im Mittelalter bildete sich in Europa eine doppelte Gewalt heraus, die weltliche mit Königen und Fürsten und die kirchliche mit dem Papst.
In der Renaissance begannen die Wissenschaftler und Philosophen, das von der Kirche definierten Weltbild teilweise in Frage zu stellen. Bis ins 17. Jahrhundert wurden sie allerdings jeweils von der Inquisition scharf zurückgepfiffen. Die gesellschaftlichen Veränderungen waren gemächlich und dauerten Generationen. 

Die Geburt der westlichen Demokratie, das Demokratiemodell im 18. Jahrhundert

In der Zeit der Aufklärung, der französischen Revolution und der anschliessenden Restaurationszeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann man über neue Formen der Staatsführung und Gesellschaftsorganisationen nachzudenken und zu experimentieren. Eine lange Liste von Philosophen des 17. bis ins frühe 19. Jahrhundert hatten viele neue Ansätze erarbeitet und publiziert. Beim Studium der Philosophen aus jener Zeitperiode bin ich überrascht vieles zu finden, das heute wieder als neue zukünftige Ansätze verkauft wird (z.B. allgemeines Grundeinkommen). Mit vielem hat man im 19. und frühen 20. Jahrhundert kleinere oder grössere Versuche gemacht, zum Beispiel in Quartieren, Überbauungen oder einzelnen Städten. Als grosses Experiment könnte man den Kommunismus in Europa und in Russland bezeichnen, der sich aber nicht definitiv durchsetzen konnte.  
Etabliert hat sich hingegen das Prinzip der Gewaltenteilung auf drei Säulen, die zum ersten Mal in den 1776 gegründeten Vereinigten Staaten von Amerika eingeführt wurde. Die drei Säulen sollen voneinander unabhängig operieren, sich gegenseitig kontrollieren und damit einen ausgewogenen Ausgleich schaffen.

  • Legislative (Landsgemeinde, Gemeindeversammlung, Parlament, Volksabstimmungen)
  • Exekutive (Regierung, z.B. Gemeinderat, Bundesrat)
  • Judikative (Gerichte)

Bis zu Beginn des 20 Jahrhunderts (1. Weltkrieg) haben die meisten der westlichen Staaten ein entsprechendes Regierungssystem eingeführt. Es gab auch im 20. Jahrhundert Rückschläge. So etablierten sich etwa in einigen europäischen Ländern Diktatoren.

Die politische Meinungsbildung erfolgte in der Regel durch wenige politische Parteien mit einem breiten Spektrum zwischen Links und Rechts, zwischen progressiv und konservativ. Zu Beginn war das Wahl- und Stimmrecht beschränkt auf Männer in «good standing» (bestimmtes Vermögen, keine Schulden, nicht straffällig, kein Landstreicher, …). Von der Bevölkerung über 20 Jahren waren daher teilweise lediglich 20% stimmberechtigt, in der Schweiz zirka 23 % (siehe https://www.ch.ch/de/wahlen2019/eidgenossische-wahlen-ein-blick-zuruck/entwicklung-des-stimmrechts-in-der-schweiz/ ). Im 20. Jahrhundert kam zuerst das allgemeine Wahlrecht für die Männer, d.h. die Restriktion wurden aufgehoben, dann folgte das Frauenstimmrecht, und schliesslich wurde das Stimmrechtsalter auf 18 Jahre gesenkt. Heute sind etwa 65 % der Bevölkerung stimmberechtigt. Die Gewaltentrennung hat über diese Zeitperiode relativ gut funktioniert.

Die meisten Staaten waren Nationalstaaten, d.h. im Wesentlichen definiert durch eine Sprache und meistens eine einheitliche ethnische Abstammung und Religion, oft auch nur eine Konfession.
Die in Wahlen und Abstimmungen Unterlegenen haben den Entscheid des Souveräns (teilweise auch knurrend) akzeptiert. Die wenigen Aufstände wurden durch die Staatsgewalt meistens kurzfristig gelöst.

Entwicklung der westlichen Demokratien seit dem 2. Weltkrieg

Der Nationalstaat schwächt sich

  • Die Nationalstaaten sind aus ihren Nationen herausgewachsen
  • Es hat eine Vermischung von Ethnien in den Nationalstaaten gegeben, zuerst andere europäische Ethnien, dann global. Speziell aus dem Nahen Osten und Nordafrika finden Einwanderungen statt.
  • Es kam zu einer stärkeren konfessionellen Vermischung, später stiessen auch ausserchristliche Religionen dazu. Für die europäischen Christen hat die Religion immer mehr an Bedeutung verloren, während zugewanderte Religionen bei ihren Anhängern einen im Vergleich höheren Stellenwert einnehmen.
  • Durch die Völkervermischung hat auch die Einheitssprache gelitten. Für viele ist die Sprache der Nation, in der sie leben zur Zweitsprache, wenn überhaupt gelernt, geworden.
  • In kurzer Zeit, in wenigen Jahrzehnten, hat sich die Bevölkerungsstruktur geändert. Der Nationalstaat, gemäss Definition, ist verschwunden. Multikulti ist angesagt. Für einen Teil der Bevölkerung ist dies eine Bereicherung des Lebens, für einen anderen eine Bedrohung und Benachteiligung.
  • Der Staat hat von den (Gross-)Familien immer mehr Aufgaben übernommen. Er wird heute als Versicherung für alle Widrigkeiten des Lebens gesehen (Sozialstaat von der Wiege bis zur Bahre).
  • Die Finanzierung des Sozialstaates wird durch die globale Entwicklung anspruchsvoller. Über Jahrhunderte wurde ein nicht zu unterschätzender Anteil des Lebensstandards zuerst durch die Ausbeutung der Kolonien und dann durch billige Arbeitskräfte in der dritten Welt mitfinanziert. Diese werden Schritt für Schritt ihren eigenen Weg gehen und keinen Beitrag mehr an die westlichen Staaten leisten.

Überstaatliche Organisationen

Neben den Nationalstaaten entstanden viele überstaatliche Organisationen auf globaler oder europäischer Ebene. Global bedeutend ist die UNO mit all ihren Unterorganisationen, WTO, IWF, Weltbank, Internationaler Gerichtshof usw. Auf europäischer Ebene sind es die EU, EFTA, der Europarat, die OSCE oder der Europäische Gerichtshof. Beim Beitritt eines Nationalstaates sind die Regeln und Bedingungen bekannt und überblickbar. Über die Jahre haben die Organisationen die Regeln und ihre Gesetze stark erweitert und werden diese weiterhin anpassen. Der demokratische Einfluss der Einzelstaaten auf die Organisation ist klein geworden. Insbesondere kleine Staaten, die kein Machtgewicht haben, werden überstimmt und müssen die Kröten schlucken. Mehr und mehr ergeben sich Widersprüche mit den nationalen Grundgesetzen/Bundesverfassungen. Immer wieder stehen Staaten vor dem Dilemma, diese Situationen ohne eigenen Einfluss zu akzeptieren oder die Gesamtorganisation zu verlassen.
Die europäischen Organisationen haben die Tendenz, den französischen, zentralistischen Ansatz zu wählen und alles einheitlich zu regeln. Statt Paris hat halt nun Brüssel oder Strassburg das Sagen. Der Substitutionsansatz nachdem zum Beispiel die Schweiz und die Bundesrepublik Deutschland aufgebaut sind, wird immer weniger angewendet. Dieser sagt aus, dass eine Aufgabe auf der untersten möglichen und sinnvollen Ebene geregelt werden soll - Gemeinde. Kanton, Bund, Europäisch, Global.
Die Strukturen der genannten überstaatlichen Organisationen werden teilweise so aufgebaut, dass ein Austritt fast unmöglich wird (Beispiel Grossbritannien aus der EU).

Verlust der Gewaltentrennung

Für mich ist beunruhigend, dass die Gewaltentrennung mehr und mehr verwischt wird. Speziell die Judikative (Gerichte) spielt sich immer mehr zur Legislative, also zur gesetzgeberischen Gewalt auf. Sie massen sich an, aufgrund allgemeiner Grundsätze die Anpassung von Gesetzen auf Sachebenen anzuordnen, weil sie nicht mehr zeitgemäss seien und nicht dem allgemeinen Geist entsprechen würden. Die Gesetze werden damit durch ein Gremium geschaffen, dem die gesetzgeberische Gewalt gar nicht zusteht. In ursprünglich von der Legislative genehmigte Gesetze wird ein neuer Sinn hineininterpretiert. Dies hebelt die Gewaltentrennung aus. Richter werden oft für lange Zeit berufen und können durch den Souverän kaum abberufen werden. Als Beispiel ist der Europäische Gerichtshof zu nennen. Die kleine Gruppe von Juristen verlangt explizit die Änderung von Gesetzen. Die Gewaltenteilung funktioniert in westlichen Demokratien auch nur bedingt; etwas, das man sonst “illiberalen Demokratien” wie zum Beispiel Ungarn vorwirft.

Presse

Die sogenannte 4. Gewalt, die Presse, hat sich auch stark verändert. Die technischen Innovationen der letzten Jahre hat die Anzahl der Player und der Informationskanäle enorm erweitert. Aus meiner Sicht ist die Quantität stark angestiegen bei gleichzeitigem Abbau der Qualität. Um in der Masse gehört oder gelesen zu werden und um die notwendigen Finanzen zu beschaffen muss die Botschaft auf reisserische Art geliefert werden und kurz sein, sonst geht sie unter. Die Inhalte sind oft schwer einzuordnen, weil man die effektive Quelle und den persönlichen Standpunkt des Verfassers nicht kennt. Bei traditionellen Zeitungen oder auch Sendern kannte man die Grundeinstellung, und somit konnte man den Blickwinkel, unter dem der Beitrag entstand, entsprechend besser einordnen.

Ich halte mich heute soweit möglich an Quellen, die ich einordnen kann. In der Schweiz sind es die «NZZ» und «TA Gruppe», in Deutschland die «FAZ», «Die Welt», «Die Zeit» und der «Spiegel», in Frankreich «Le Monde» und «Le Figaro», in England die «Times», der «Telegraph», der «Guardian», natürlich der «Economist», in der USA die «Washington Post», die «New York Times», «Foreign Affairs», im arabischen Raum «Al Jazeera», in Russland die «Prawda» und «RT Russland Today», in China die «China Daily», die «Global Times», die «Xinhua», in Hongkong «South China Morning Post», in Japan die «Japan Times», von Singapore die «Straits Times», in der Türkei die «Daily Sabah», die «Hürriyet». Von diesen weiss ich, wo sie politisch stehen, und kann sie dementsprechend einordnen. Ich schaue mir auch regelmässig die Biografien der Journalisten/Autoren an. Grundsätzlich verbreiten all diese Blätter keine Falschinformationen, sie wählen aber die Informationen nach ihrem Weltbild aus. Aufschlussreich ist immer auch, worüber nicht berichtet, worüber mehrdeutig und schwammig berichtet wird. Die Kommunikationskultur in den jeweiligen Gesellschaften sollte man bei der Interpretation berücksichtigen. Der Stil in Europa, USA und Asien ist komplett anders. Ich bin überzeugt, dass ich, nachdem ich die Berichterstattung aus verschiedenen Weltgegenden gelesen und noch mein Verständnis der jeweiligen Kultur hinterlegt habe, ich mir ein vernünftiges Bild der Situation machen kann.

Auf wilde Quellen im Internet gebe ich wenig Wert. Auf den sozialen Plattformen, wie Facebook, Instagram und YouTube etc. bin ich für die Informationsgewinnung nicht zu Hause. Wenn ich im Netz recherchiere, suche ich die Informationen bei den staatlichen, internationalen und nationalen Organisationen, Verbänden, Parteien, Beratungsunternehmen, Firmen, grossen Statistikseiten, Wikipedia usw. die ich verorten kann.

Auf diese Weise versuche ich einerseits, ein möglichst breites Spektrum an regionalen Gesichtspunkten zu erfahren , und andererseits nicht in einer Informationsblase gefangen zu bleiben. Das Problem ist doch, dass heute gerade bei digitalen Plattformen nur noch gefüttert wird, was der Leser gerne frisst, ermöglicht durch Algorithmen, die individuelle Präferenzen kennen.

Zivilgesellschaft

Unter dem Begriff Zivilgesellschaft tummeln sich heute unzählige Interessenvertretungen, die ruhig, lautstark oder teilweise ausserhalb des gesetzlichen Rahmens ihre Interessen durchsetzen wollen.
Was oder wer ist die Zivilgesellschaft?

Der Begriff Zivilgesellschaft ist in aller Munde, obwohl es dafür keine saubere Definition gibt.
Es ist ein ursprünglich unter anderem vom italienischen Theoretiker Antonio Gramsci (1891–1937) entwickelter Begriff. Er verstand darunter die Gesamtheit aller nichtstaatlichen Organisationen, die auf den "Alltagsverstand und die öffentliche Meinung" Einfluss haben.

Es ist einfacher zu definieren was nicht dazugehört. Eindeutig zählt nicht dazu:

  • Die einzelne Person, die Gross-Familiengemeinschaft
  • Der Staat mit all seinen Institutionen
  • Der Markt, der nicht dem Staat gehört

Mit wenigen Ausnahmen zählt man auch nicht dazu:

  • Die politischen Parteien
  • Die Gewerkschaften
  • Die Kirchen

Organisationen der Zivilgesellschaft zeichnen sich aus durch Selbstorganisation und Freiwilligkeit. Zudem orientieren sie sich nach dem subjektiven Gemeinwohl und streben nicht nach Gewinn. Gegenüber der Gesellschaft sind sie entweder:

  • Loyal – unterstützend
  • Lauthals – in Opposition – wollenl eine geänderte Gesellschaft
  • Aussteigend - wollen nichts mit der bestehenden Gesellschaft zu tun haben

Sie leisten einen Beitrag zum sozialen Frieden oder tragen über soziale Unruhen zu einem Wandel bei.

Die Liste, welche Organisationen man dazu zählt, ist lang. Für Deutschland z.B. habe ich von 80’000 Organisationen gelesen, die man dazu zählen könnte. Sie können in folgende Gruppen zusammengefasst werden:

  • Dienstleister (z.B. Rotes Kreuz, REGA, TCS, Wanderweg-Unterhaltsorganisationen, …)
  • Themenanwälte (z.B. Greenpeace, Atomkraftgegner, Gegner von grossen Bau- und Infrastrukturprojekten, Tierschutz- und Umweltorganisationen)
  • Wächter (z.B. Verbraucherschutzverbände)Selbsthilfe (z.B. Patientenselbsthilfen, Elternvereine, Kinderhütevereine)     
  • Mittler (z.B. Förderstiftungen, Berufs- Branchenverbände)
  • Solidaritätsstiftung (z.B. REGA, Paraplegiker Stiftung, Pflegeservice)
  • Politische Deliberation (z.B. Bürgerplattformen und andere Plattformen), also politische Bewegungen ausserhalb der Parteienstrukturen
  • Persönliche Erfüllung von Wünschen und Bedürfnissen (z.B. Sport-, Musik-, Gesangs-, Schachvereine, Jugendorganisationen, usw.)

Gewaltige Zunahme der Komplexität

All die staatlichen Organisationen auf verschiedenen Stufen (Gemeinde, Region, Kanton/Provinz, Nation, Kontinent und Welt), die grosse Anzahl von politischen Parteien und Gruppierungen, die heterogenen Gesellschaften (ethnisch, kulturell, weltanschaulich), die vielen unterschiedlichen privaten und persönlichen Lebensmodelle, die globale intransparente Presse, die Flut an wilden unkontrollierten und anonymen Informationen im Netz, sowie unzählige zivilgesellschaftliche Organisationen haben zu sehr schwer führbaren komplexen politischen Einheiten, inklusive der eigentlichen Staaten, geführt.

In vielen Staatsgesellschaften ist das Gemeinschaftsgefühl abhandengekommen. Wie schon oben erwähnt ist der Staat zu einer Finanzierungs- und Lebensrettungsorganisation geworden. Es wird erwartet, dass er einem grosszügig aus der Patsche hilft, wenn man sich verfahren oder verspekuliert hat.

Zudem werden gefällte Entscheide häufig nicht mehr akzeptiert und getragen, was es schwierig macht, grosse Vorhaben und Projekte zu realisieren. Lange wird um einen politischen Entscheid gerungen. Noch vor der Realisierung kommt möglicherweise eine neue Regierung an die Macht, die neue Ideen einbringt. Wird dann endlich ein Projekt genehmigt (Volksabstimmung oder Parlament), wird dieser über gerichtlich angefochten, oft über mehrere Stufen, manchmal über Jahre oder Jahrzehnte. Das Gericht gibt unter Umständen das Geschäft mit Auflagen zur Neubeurteilung an die Legislative zurück. Wenn dann ein «endgültiger» Entscheid vorliegt werden, die unterlegenen Gruppen der Zivilgesellschaft aktiv und blockieren und sabotieren die Realisierung. Beispiele sind der neue Bahnhof von Stuttgart, das neue Fussballstadion von Zürich, etc. An beiden Projekten wird seit Jahrzehnten geplant und Geld zum Fenster hinausgeworfen, und man hat nichts als frustrierte und unzufriedene Bürger auf allen Seiten.

Kurz, in mehr und mehr Bereichen werden keine zukunftsfähigen Entscheide innerhalb vernünftiger Zeit gefällt. In unserer schnelllebigen globalen Welt ist dies gegenüber anderen Gesellschaften mehr und mehr ein Nachteil. Man rennt den Entwicklungen hinten nach und hat keinen Gestaltungsspielraum mehr.

Was mir Sorge macht

Die westliche Gesellschaft lebt, wie oben dargestellt, in einem komplexen Räderwerk, das nicht mehr oder fast nicht mehr durchschaut wird. Es ist einfach geworden, überall Sand ins Getriebe zu werfen, was mehr und mehr eine vernünftige Funktion der Staaten stört. Die Interessen sind so unterschiedlich geworden, dass wir uns dem Zustand «Rien ne va plus» (Nichts geht mehr) nähern. Aus diesem komplexen Knäuel einen demokratischen Mehrheitsentscheid zu erzielen überfordert viele Staaten und Organisationen. Erschwerend kommt dazu, dass nach Jahrzehnten des Wachstums heute haushälterischer mit den Ressourcen umgegangen werden muss. Immer neuen Forderungen stehen begrenzte Mittel gegenüber, das dazu führt, dass westliche Staaten nicht darum herum kommen werden, irgendwo Leistungen abzubauen. Wir leben heute schon unfairerweise grosszügig auf Kosten von zukünftigen Generationen.

Roger de Weck hat in einer Sternstunde der Philosophie im März 2020 am Fernsehen SRF mit Überzeugung gesagt, dass die Prozesse langwierig geworden sind, dass es aber keine Alternative zur westlichen liberalen Demokratie geben und diese am Schluss die Oberhand gewinnen werde. Das Politmotto «dies ist alternativlos» wird heute gerne verwendet, wenn man nicht mehr weiter weiss. Dabei sind neue Ansätze gefragt. 

Auch der englische Historiker David Runciman von der Universität Cambridge hat 2018 in seinem Buch «How Democracy Ends» (jetzt auch auf Deutsch als «So endet die Demokratie») Zweifel angemeldet, ob die heutige Art der westlichen Demokratien überlebensfähig sind. Ich habe bis jetzt nur Zusammenfassungen seines Buches gelesen, das Buch selbst steht noch auf meiner Bestellliste. Eine Kernaussage ist:
Unsere Demokratien werden nicht implodieren wie in der Vergangenheit, weil ein Land einen Krieg verliert. Aber sie können einfach verschwinden, ausgehöhlt von Kräften des technologischen Fortschritts, globalen Schwerpunktverschiebungen und der sozialen Spaltung, die wir nicht verstehen können oder wollen.
Neben dem technologischen Fortschritt nannte er schon vor zwei Jahren auch Pandemien (siehe heute COVID 19) oder andere globale Desaster und die immer drängenderen Herausforderungen des Klimawandels.

Ich bin nicht zuversichtlich wie Roger de Weck, dass wir einfach Zeit brauchen und dann die richtigen Lösungen innerhalb der heutigen Strukturen finden, möchte aber an dieser Stelle noch keine alternative Ideen in den Ring werfen. Tatsache ist, dass grössere gesellschaftliche Veränderungen anstehen, deren Ausgang niemand voraussagen kann. Aus meiner Sicht muss der Westen auch das «Axiom», dass die persönliche individuelle Freiheit unantastbar ist, auf den Prüfstand stellen. Kann diese wirklich das oberste Gut der Gesellschaft sein? Persönlich sehe ich mich auch als Individualist, der sich nicht einfach in eine Herde integriert, ausser vielleicht als Leittier! Aber für 10 Milliarden Individualisten gibt es keinen Platz auf dem Planeten.

Nachdem während den letzten 200 Jahren die Fahne der «Liberté» hochgehalten wurde, wird die Suche nach und dann die Realisierung von alternativen Lösungen schmerzhaft sein - wahrscheinlich für westliche Gesellschaften schmerzhafter als für solche, die heute schon das Wohlergehen der Gemeinschaft höher werten. Viele von uns sehen die Aufgabe der Gemeinschaft nur noch darin, Ressourcen zur Verfügung zu stellen für die Erreichung persönlicher Ziele oder die Ziele kleiner Interessengruppen, oder als Rettungsnetz, wenn man sich (unvernünftig) verrannt hat. Dabei ist insbesondere auch die Toleranz abhandengekommen, die Lebensweise und Bedürfnisse von anderen Gruppen nebeneinander zu akzeptieren. Dass auch die Vielfalt an individuellen Lebensformen immer breiter wird, macht das harmonische Zusammenleben auch nicht einfacher. Wie die westliche Gesellschaft ohne sozialen Unruhen einen Weg in die Zukunft finden wird, sehe ich im Moment auch nicht.

Trotz der offenkundigen Schwächen des westlichen Systems versuchen wir immer noch, anderen Kulturen unser sogenanntes Demokratie-Modell aufzuzwingen, statt sie ihre Lösungen zu realisieren. Ich habe manchmal den Eindruck, man wolle die anderen ins Boot holen, damit sie auch mithelfen Wasser aus dem leckgeschlagenen Schiff zu schaufeln - oder sie davon abzuhalten, uns auf ihren eigenen Wegen gar zu überholen…

Gemäss einem Chinesischen Sprichwort gibt es zu jedem Problem drei Lösungen - eine die ICH sehe, eine die DU siehst, und eine, die wir beide nicht sehen!

Neueste Kommentare

20.05 | 16:23

Besser habe ich noch keine der vielen Erklärungen zur Blockchain Technologie und den Kryptowährungen berstanden als die obige! Vielen Dank - Ruedi

16.12 | 11:03

Lieber Bernhard - Hab Dank für diesen sehr Informativen Erfahrungsbericht! Vieles was Du beschreibst, deckt sich mit meiner eigenen Berufserfahrungen. Im In- sowie vor allem auch im fernen Ausland!

03.10 | 09:36

Super die Bilder und die Berichte. Wir verfolgen eure Reise mit Interesse. Einige Orte sind mir noch in bester Erinnerung.
Liebe Grüsse
Toni und Erika

02.10 | 08:00

Hallo zusammen. Wir lesen euren Blog mit viel Interesse da wir all die Orte auf unseren 4 Costa Rica 🇨🇷 Reisen kennengelernt haben. Ein wunderschönes Land mit prächtiger Natur. Gute Weiterreise. Lisbet