TIANXIA - Alles unter dem Himmel

Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung von ZHAO Tingyang

In den letzten Jahren habe ich einige Bücher über abendländische Philosophie und von deren Denkern gelesen, über die ich bei Gelegenheit einige summarische Gedanken machen will. Dieser westlichen Kultur können etwa eine Milliarde Menschen auf unserem Globus zugerechnet werden. Auch im Rest der Welt, heute über sechs Milliarden Menschen, gibt es grosse Kulturen, die ihre eigene über Jahrtausende entwickelte Philosophie haben und sich Gedanken über sinnvolle Lebensmodelle gemacht haben. Diese werden bei unserem Denken oft ausgeblendet, von vielen noch als rückständig eingestuft, oder man hat keine Ahnung davon.
Ich habe mir vorgenommen, auch tiefer in diese fremden Philosophien einzutauchen. Für mich ist es naheliegend, mich zuerst mit der chinesischen Philosophie auseinanderzusetzen. Die aktuelle Kultur im Reich der Mitte und deren Denkweise habe ich in meinen zehn in China hautnah erleben dürfen. Wir lebten nicht in einem Ausländergetto, und ich leitete JVs mit zu Beginn vier Europäern, später war ich allein unter 600 Chinesen.
Da ich nicht die chinesischen Originaltexte lesen kann, muss ich mich auf englische oder deutsche Übersetzungen beschränken. Die folgenden philosophischen Überlegungen basieren auf dem Buch «Alles unter dem Himmel - Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung» von einem der bekanntesten heutigen chinesischen Philosophen ZHAO Tingyang. Sein Fokus ist eine politische Philosophie. Er geht darin den Fragen nach, welche «Weltregierung» auf welcher philosophischen Basis die vernetzte globale Welt braucht, und welche Lehren man dafür aus 3'000 Jahren chinesischer Philosophie und Geschichte ziehen kann.
Die Philosophie hat wie andere Fachgebiete ihre eigene Sprache und eigene Begriffe. Herr ZHAO hat viele Gedanken konzentriert auf 250 Seiten gebracht. Seine vielen Gedanken auf wenigen Seiten in einen brauchbaren allgemein verständlichen Kontext zu stellen ist daher schwierig.

Nachdem ich bei einem Freund erwähnt habe, dass ich dieses Buch lese, wünschte er sich eine Zusammenfassung oder einen Kommentar darüber. Mit diesem Aufsatz stelle ich mich der Herausforderung. Ich werde im Folgenden einige Gedanken von chinesischen Philosophen zusammentragen und versuchen, einen kleinen Einblick in das Denken der Chinesen zu geben. Ich weiss, dies ist ein Tropfen auf einen heissen Stein, wenn man bedenkt, dass damit über 3'000 Jahre einer uns fremden Hochkultur abgedeckt werden sollen. Ohne minimale Grundkenntnisse ihrer Philosophie kann man das heutige China und seiner Handlungsweise jedoch nicht verstehen.
Herr ZHAO stellt in seinem Buch dem chinesischen Denken die abendländische Philosophie entgegen und vergleicht seine Gedanken oft mit denen seiner Kollegen in unserer Kultur, wie Sokrates, Thomas Hobbes, Immanuel Kant, John Rawls, Jürgen Habermas, Michael Hardt, Karl Marx, Jean-Jacques Rousseau, Antonio Negri, Ludwig Wittgenstein, Thomas Piketty, Samuel Huntington, Francis Fukuyama, Taleb Nassim Nicholas, Carl Schmitt und weiteren.

Der Übersetzer hat in seinem Buch einige Schlüsselbegriffe aus der chinesischen Philosophie nicht übersetzt, weil es dafür keinen richtigen deutschen oder englischen Begriff gibt. In diesen Fällen hat er das chinesische Wort in der Pinyin-Schrift (phonetische Umschreibung des chinesischen Zeichens) niedergeschrieben. Bei der ersten Verwendung hat er versucht, die Bedeutung in Deutsch und Englisch zu umschreiben. (Zum besseren Verständnis hat er immer wieder zum deutschen Wort auch das englische in Klammer beigefügt.)

Sein Hauptwort: TIANXIA 天下:

Tianxia ist eine Wortfolge aus zwei Schriftzeichen («Himmel» und «unten») der chinesischen Hochsprache. Der Begriff ist vieldeutig und wird meistens ausgelegt als „Alles, was unter dem Himmel ist“, ohne geographisch-räumliche Einschränkungen. Historisch wurde so auch der Herrschaftsanspruch des Kaisers bezeichnet. Der Begriff ist in der chinesischen Kultur sehr komplex.

Das Buch hat in den letzten Jahren zu einigen kritischen Artikeln in westlichen Zeitungen geführt. Einige Links dazu im Literaturverzeichnis.

Ich kann und will nicht den Gesamtinhalt des Buches in diesem Aufsatz analysieren und kommentieren. Ich kann nur, mit aus dem Rahmen gezogenen Aussagen, ein grobmaschiges Netz auslegen, und hoffe, dass dies zum Nachdenken und vielleicht eigenen Nachforschungen anregt. Es ersetzt nicht die detaillierte Auseinandersetzung mit dem Buch und dessen Quellen.

Geschichtlicher Hintergrund der chinesischen Philosophie

Beginnen wir mit einem kurzen geschichtlichen Überblick.
Die «Dynastien» der 3500 Jahren chinesische Geschichte können grob in die folgenden Hauptphasen eingeteilt werden.

  • Frühe Dynastien inklusive der Zhou Dynastie bis im Jahre 221 vor Chr.
  • Die Kaiserreiche von der Qin Dynastie von 221 vor Chr. bis zum Ende der Qing Dynastie im Jahre 1911 n. Chr.
  • Republik China von 1911 bis 1949 (teilweise wird Taiwan als Nachfolger gesehen)
  • Volksrepublik China seit 1949

Einen Überblick über alle Dynastien zeigt der untenstehende Zeitstrahl. In nicht allen Dynastien stammten die Kaiser von den Han-Chinesen ab. Die grössten aussenstehenden waren die Yuan Kaiser (Mongolen) und die Qing Kaiser (Mandschuren).

Die dominante Grundlage und ein früher Höhepunkt der chinesischen Philosophie wurden in der Zhou Dynastie 1000 bis 200 vor Chr. gelegt. Aus dieser Zeit stammen die vier heute noch berühmten und prägenden Philosophen:

  • Konfuzius
  • Laozi
  • Mozi
  • Mengzi

Die folgenden vier Begriffe sind in der chinesischen Kultur, Philosophie, Geschichte, … zentral:

  • Tian 天 (zu Beginn Shangdi 上地): Personifizierung der Ordnung der Natur, allgemein im deutschen als Himmel übersetzt.
  • Di 地: Die Erde
  • Ren人: Der Mensch
  • Dao/Tao道: Der Weg unter dem Himmel

Alle Menschen (ren) sind unter dem gemeinsamen Himmel/Natur (tian) auf der Erde (di) und gehen ihren Weg (dao/tao) und verbinden dabei Himmel und Erde.

Aus dieser Zeit stammen die 5 (6) Klassiker der chinesischen Literatur/Philosophie/Staatskunst

  • Das Buch der Wandlungen – I Ging
  • Das Buch der Lieder
  • Das Buch der Riten
  • Das Buch der Urkunden
  • Die Frühlings- und Herbstannalen

Das sechste Buch, das Buch der Musik, wurde nie gefunden, und es gibt keine gesicherten Dokumente, dass dieses Buch existiert hat. Es geistert immer noch im Dunst der Geschichte herum.

Die chinesische Republik (1911 bis 1949) und die Volksrepublik unter Mao wollten eine Distanz zur «Vorgeschichte» schaffen. Das westlich demokratische und das kommunistische Denken fiel aber nicht auf einen sehr fruchtbaren Boden. Die Chinesen fühlten sich entwurzelt. Deng Xiaoping begründete den «Kommunismus chinesischer Art», die kapitalistische und marktwirtschaftliche Komponenten hat und die traditionelle chinesische Philosophie mit dem Marxismus verbindet. Damit konnten die wichtigen traditionellen Riten wieder öffentlich gepflegt und die Verbindung mit der Geschichte wiederhergestellt werden. Aus meiner Sicht stellt das folgende Bild von «Merics» die heutige Situation gut dar. Im täglichen Leben kommen noch moderne Managementmethoden dazu.

Welches sind die Grundlagen zu einer Weltregierung?

Im ersten Teil macht sich ZHAO Gedanken, wie die Welt regiert werden könnte. Das heutige Konzept von Nationalstaaten, von denen einige zu Imperialismus und Hegemonie streben, kann in einer globalisierten Welt seiner Meinung nach nicht die Lösung für eine Weltregierung sein. Im westlichen Denken sei das Freund-Feind Denken noch stark verankert. Dazu passen die Aussagen des US-Präsidenten Bush, des römischen Politikers und Philosophen Cicero und der Apostel Matthäus und Markus, «wer nicht für uns ist, ist gegen uns». Auch der deutsche Staatsrechtler und Philosoph Carl Schmitt war für die klare Unterscheidung in Freund und Feind, genauso wie die christlichen Kirchen im Kampf des Christentums gegen die Heiden und anderen Religionen. Das «Gesetz des Dschungels» von Thomas Hobbes, Huntingtons «Kampf der Kulturen» und viele weitere stützen diese Freund-Feind Denkweise.

Dagegen setzt das Tianxia-Konzept auf Koexistenz, Toleranz und gegenseitigen Respekt. Der chinesische Philosoph Xunzi sagte: die Koexistenz ist die Voraussetzung der Existenz.

Im chinesischen politischen Denken gibt es nur ein Innen unter dem Himmel und kein Aussen. Dinge sind nur näher oder ferner von einem Zentrum. Im vom Westen geschaffenen Nationalstaatensystem gibt es Innen- und Aussenpolitik, es gibt keine Gesamtordnung, Übergeordnetes wie im «Tianxia», sondern im besten Fall Staatengemeinschaften gegen andere Staaten.

Aus ZHAOs Sicht sind heute weder die Menschenrechte in der heutigen Form noch ein allgemeingültiges Gerechtigkeitsverständnis auf globaler Basis akzeptiert. Die imperialen Mächte benutzen die Begriffe grosszügig und einseitig, um Angriffskriege zu führen und um ihre Interessen und Einflusszonen abzusichern. Auch halten viele Mächte, Religionen, Kulturen an ihren nichtverhandelbaren Positionen fest und lassen keine Toleranz zu. Das zeigt sich sehr anschaulich bei einfachen Vertragsverhandlungen innerhalb westlicher Staaten - keine Seite will eingeführte Standards in Frage stellen. Nur deren weitere Verschärfung im eigenen Sinn ist eine Option. Der gescheiterte TTIP Handelsvertrag der USA mit der EU ist ein typisches Beispiel dafür.
In einer echten Weltregierung müsste die Gewichtung der Einflüsse in den Organen und Abstimmungen nach der Grösse der Wohnbevölkerung der Staaten bzw. der Regionen berücksichtigt werden, wovon wir heute weit entfernt sind.

Gemäss ZAHO muss die Politik als Kunst des Zusammenlebens verstanden werden und nicht als Technik des Herrschens. Die Politik muss ein Instrument werden, die Feinde in Freunde umwandelt, und kein Instrument des Kampfes und Herrschens sein. 

Die Inklusion der Welt muss daher durch die Schaffung eines Systems globaler Koexistenz als Daseinsprinzip geschaffen werden. Als integrale Bestandteile müssten auch die heutigen Technologien und das Kapital gelten, die sich bis jetzt lediglich an unbegrenzte Expansion ausrichten.

Ziel muss es sein, durch Streben nach einem optimalen Zustand von Koexistenz, bestehend aus Maximierung von Kooperation und Minimierung von Konflikt auf der Grundlage gegenseitiger Schadensminimierung, den Nutzen für alle Menschen zu steigern.

Die Zhou Kaiser 1'000 bis 200 vor Chr. - hatten sie die Grundlage für ein brauchbares politisches Weltmodell?

Im zweiten Teil macht ZHAO Tingyang eine Auslegeordnung der Kultur der Zhou Dynastie, die letzte vor den nachfolgenden Kaiserreichen. Die Kaiser wurden bei ihren Gedanken durch die in dieser Zeit lebenden, berühmten und bekanntesten Philosophen der chinesischen Geschichte unterstützt. Die Namen habe ich weiter oben schon erwähnt.

«Alles unter dem Himmel» war zu jener Zeit die ganze in Ostasien bekannte Welt, die nach damaliger Definition von vier «Meeren» begrenzt wurden. Das Ost-Meer (wirklich ein Meer), das Nord-Meer (die Wüsten Gobi und Taklamaka), das West-Meer (die Gebirge des Pamir und Himalayas) und das Süd-Meer (der Dschungel Indochinas).

Entlang der zwei grossen Ströme Huang He (gelber Fluss) und Jiangzejiang lebten «10'000 Staaten/Stämme» unter dem Himmel. Gemäss den Legenden stand ein Himmelssohn über den Stammeshäuptlingen. Die Überlieferung sagt, dass «weise» Herrscher zwischen den Stämmen zu koordinieren begannen.

Das Weltmodell «Tianxia» in der Zhou-Dynastie

Das Weltmodell «Tianxia» in der Zhou-Dynastie

Die Zhou Kaiser begannen, obwohl militärisch nicht dominant, ein System für eine «Weltregierung» (der damaligen Ost-Welt) zu entwickeln, das Tianxia-System. Dies konnte nur funktionieren, indem die verschiedenen Bedürfnisse aller Beteiligten ausbalanciert wurden. Es ist erstaunlich, dass dazumal ein lokaler Herrscher einen Top-Down Ansatz für die ganze (damals ihm bekannte) Welt entwickelte. Damals lebten über eine Million Leute im Bereich der chinesischen Zentralebene, der Kleinstaat der Zhou hatte etwa 50'000 Einwohner. Seine grosse Aufgabe war eine Lösung zu finden für die Aufgabe, «wie ein Kleiner den Grossen oder ein Einzelner die Vielen» regiert. Die Antwort war ein System der Attraktivität zu schaffen, im Gegensatz zu militärischer Abschreckung und Kontrolle. Ein Hegemonialsystem war für die Zhou keine Option. Für die einzelnen Stämme musste der aus dem Beitritt resultierende Nutzen grösser sein als der Nutzen eines Nicht-Beitritts.

Herzog Dan von der Zhou-Dynastie schaffte zu diesem Zweck 1. das Lehnsystem, 2. das System der Riten und Musik als Grundlage für die spirituelle Daseinsordnung und 3. das Prinzip der Tugendherrschaft zur Nutzens-Maximierung aller. Das Lehnsystem bestand aus zirka 70 Stämmen mit einem «Kronland» für die Gesamtkoordination, ergänzt durch einen zweiten Kreis mit ungefähr 700 tributären Staaten. Das Ziel war eine Organisation einer universellen freiwilligen offenen Kooperation und Koexistenz. Das Kronland konnte wechseln, wenn der Himmel das Mandat dem einen Herrscher entzog (Volksaufstand oder Revolution).

Die gesellschaftliche politische Ordnung (Entitäten) war: Tianxia – Staat/Stamm – Sippe, in dieser Reihenfolge. Im Gegensatz gilt bei uns: Individuum – Gemeinschaft – Nationalstaat.

Konfuzius sagte: Der Himmel beschirmt alle(s) gleichermassen ohne Eigennutz, die Erde trägt alle(s) gleichermassen ohne Eigennutz, Sonne und Mond bescheinen alle(s) gleichermassen ohne Eigennutz. Allem liegt eine allumfassende ethische und politische Ordnung zu Grunde. Das Prinzip des Yin and Yang bedeutet, dass im ewigen Kreislauf beides gleichwertig ist, dass in einer bestimmten Situation aber das Yin den Vortritt hat, in einer anderen das Yang.

Im konfuzianischen Denken ist die Sippe ein nahezu sakraler Lebensraum, der sämtliche Gene des menschlichen Dao in sich einschloss, in einer nicht weiter auf individuelle Werte oder gesellschaftliche Verträge reduzierbar. Es ist danach unmöglich, ein Einzelwesen A ausschliesslich als A zu beschreiben. Es ist zwingend zu sagen, dass wenn ein Wesen A existiert, es ausschliesslich aus einem Netz von Beziehungen existiert: (A^B)^(A^C)^(A^D)^… . Die Beziehung ^ ist wichtig und nicht die Person. Hinter ^ steht Harmonie, Pflichterfüllung und Frieden. Ich glaube, dies zu verstehen ist für einen Westler immer schwierig und führt zu vielen Miss- und Unverständnissen. Dies begründet auch, dass bei öffentlichen Auftritten in China, sei es die Regierung, ein Managementteam, oder andere Einheiten nur noch eine, vereinbarte Meinung vorgetragen wird. Die vorangehende Aushandlung erfolgt in einem geschützten Rahmen, bei dem man sein Gesicht nicht verlieren kann. Für den Individualisten stehen die Begriffe der «Logik des Entweder-oder», der Macht, des Vorteils, des Kampfs, des Siegs im Rampenlicht, in China das gemeinsame harmonische Schlussresultat.

Das Mandat des Himmels, ein Aspekt des Tianxia, beinhaltet die Legitimität, die politische Ordnung festzulegen und diese zu führen. Die Legitimität dauerte, solange sie von der «Volksseele» getragen wurde. Konfuzius sagte: Die Stimmung des Volkes bringt schlussendlich alles zu Tage.

Die Weiterentwicklung über 2'000 Jahre

Im dritten Kapital geht der Autor auf die Weiterentwicklung und die Verfeinerungen nach dem Zerfall der Zhou Dynastie durch all die folgenden Dynastien ein. Er weist darauf hin, dass die zugrundeliegenden Prinzipien beibehalten wurden und es zu keinen Brüchen mit der Philosophie kam. Auch die von aussen kommendem Kaiser (Mongolen, Mandschuren) haben sich integriert und das philosophische System weitergelebt. Organisatorisch wurde das Land zentraler mit neu geschaffenen Distrikten und Präfekturen geführt. Über die folgenden 2'000 Jahren folgten Phasen der Teilung in kleinere Reiche, die teils Kriege untereinander führten, und dann wieder die Vereinigung zu einem Grossreich. Die florierenden Phasen waren immer die vereinigten Reiche (die Han-, Tang-, Song-, Ming- und Qing Dynastien). Der Konfuzianismus war immer das tragende Element der chinesischen Kultur. Die Stämme der Zentralebene vermischten sich mehr und mehr zu dem, was wir heute die Han-Chinesen (Ethnie) nennen. In der heutigen Volksrepublik zählt man 92 % und auf Taiwan 98 % der Bevölkerung zur Han-Ethnie. Weitere 40 bis 45 Millionen Han Chinesen leben über die Welt verstreut ausserhalb Chinas in der Diaspora.

Schon Konfuzius sagte, der Staat soll durch gescheiteste und beste Mitglieder der Gesellschaft geführt werden. Während den Kaiserreichen waren dies die Mandarine. Jedermann konnte an dem strengen Auswahlprozess mit den entsprechenden Prüfungen teilnehmen. Die Besten traten dann in den Staatsdienst und führten das Kaiserreich. Nur der Kaiserthron war vererbbar. Der Kaiser war in der Regel ein Sounding Board für die Anträge und zuständig für die formelle Genehmigung. Dieses System besteht im Prinzip auch in der heutigen Volkrepublik weiter. Jährlich finden landesweit die Prüfungen für die Hochschulzulassung und den Staatsdienst statt. Auch die Aufnahme in die CCP (Chinese Communist Party) erfolgt nach einem selektiven Verfahren. Man will die Topleute aus den entsprechenden Fachgebieten in der Partei. Schon beim Parteieintritt hat das Neumitglied einen Leistungs- und Eignungsprozess durchlaufen. Es sind die «Mandarine» der Neuzeit.

Was ist zu tun, um die Welt zu retten?

Im vierten und letzten Kapitel versucht der Autor, einen erneuten Ausblick auf eine zukünftige Weltregierung zu geben, und nennt Anforderungen dafür. Für ZHAO kann der westfälische Frieden, die westlich etablierte internationale Weltordnung von 1945 oder die Aussage vom «Ende der Geschichte» von Francis Fukuyama (Die ganze Welt akzeptiert die westliche, amerikanische kontrollierte Weltordnung) keine festen unverrückbare Marksteine sein. Sie repräsentieren genau sowenig die heutige Welt wie das alte China zwischen den «vier» Meeren.

Als Einleitung zum letzten Kapitel macht er die Aussage: Die Welt ist heute eine Nicht-Welt. Für diese Welt als Nicht-Welt existiert bis heute keine von allen geteilte Weltgeschichte. In der Vormoderne hatte jeder Ort seine eigene Geschichte. Die modernen Bewegungen des Kolonialismus, die Erschliessung der Überseemärkte und der Imperialismus verbanden scheinbar die verschiedenen Orte der Welt, die unterschiedlichen Historien der einzelnen Orte wurden durch die europäische Geschichte zu einer ineinander verwobenen Geschichte zusammengesetzt, jedoch wurde daraus keine Weltgeschichte, sondern nur die Geschichte der Expansion von Europas Einfluss. Eine Weltordnung kann nicht die Ordnung einer von irgendwelchen Hegemoniestaaten oder Bündnissen mächtiger Staaten beherrschten Welt sein, sondern nur Ordnung einer Weltsouveränität, der das gemeinsame Wohl der Welt als Richtschnur dient – d.h. nicht Spielregeln, die ein Staat für die Welt aufstellt, sondern die von der Welt für sämtliche Staaten aufgestellt werden.

ZHAO legt in diesem Teil dar, weshalb für ihn das Tianxia System eine bessere Startbasis für eine inklusive Weltregierung ist als das westlich imperiale hegemoniale System.

Nach seiner Meinung habe noch immer das partikulare Staatsinteresse Priorität gegenüber dem Weltinteresse. So regle zwar internationale Politik politische Fragen auf der Welt, aber sei keine Weltpolitik. Er sieht die Welt noch in einer Phase eines imperialistischen Systems hegemonialer Staaten. Neben eigentlichen Kriegen wird heutzutage versucht, mit ökonomischem, politischem und kulturellem Druck die eigene Position durchzudrücken. Der heutige Aktionismus, bei dem alles was einem nicht gefällt sanktioniert wird, unterstützt eine solche Sichtweise. Die USA und die EU sind in diesem Bereich global einsame Spitze. Wichtige Instrumente sind dabei das Finanzsystem, die Hochtechnologie und die Basisressourcen wir Energie, Landwirtschaft und Rohstoffe. Mehr und mehr stehen dafür weltweit auch Quellen zur Verfügung, die nicht mehr vom Westen kontrolliert werden können. Die strategische Nachahmung ist an vielen Stellen angelaufen, auf der Basis des chinesischen Strategems «jemanden mit den eigenen Waffen schlagen». Der Prozess läuft immer schneller ab, die Nachfolger holen immer mehr auf, bis eine globale Pattsituation entsteht. Sanktionen werden zu Bumerangs, weil der «Bestrafte» andere Quellen findet und der sanktionierte Markt für den «Sanktionierer» endgültig verloren geht. Damit steuern wir auf eine getrennte Welt zu, die im Extremfall auch zum Untergang der heutigen Zivilisation führen könnte, es sei denn, wir schaffen es gemeinsam eine neue Weltordnung zu etablieren.

Der von Kant vorgeschlagene ewige Frieden in einem Welteinheitsstaat ist keine Option aus heutiger Sicht. Die Welt hat zu viele unterschiedliche Kulturen, Wertvorstellungen und politische Systeme. Eine solch hohe Homogenität hat heute vielleicht Europa (???), aber nicht die Welt.

Der Diskurs oder die Mediation könne nach Meinung ZHAOs nur Probleme der zweiten oder sekundären Ebene lösen, aber nicht Probleme auf der ersten, grundsätzlichen, die die drei oben erwähnten Kriterien (Kultur, Wertvorstellung, politisches System) beinhalten. Sich zugunsten eines komplett anderen Systems aufzugeben ist für keine Seite realistisch und denkbar.

Aus seiner Sicht müssen die Vorteile einer Kooperationslösung überzeugend dargestellt werden, sodass sich eine Ordnung der stabilen Kooperation etablieren kann. Jeder soll nach seiner Fasson selig werden können. Beim einen oder anderen Element (Kultur, Wertvorstellung, politisches System) könnte es vielleicht über die Zeit zu Annäherungen kommen, aber es muss eine Entscheidungsschlacht auf Leben und Tod mit allen Mitteln vermieden werden.

ZHAO betrachtet und beurteilt die verschiedenen Standpunkte und Elemente aus verschiedenen Richtungen. Er hält zum Beispiel fest, dass nur monotheistische Religionen - das Christentum/westliche Kultur und der Islam - die Forderung nach kulturellem Dogmatismus und alleiniger Verehrung. Eine Annäherung ist da sozusagen ausgeschlossen.

Die Politik soll das Ziel haben, eine kompatible Daseinsordnung zu schaffen, die die Schöpfung wachsen und gedeihen lässt. Die Politik muss dem Himmel «Tianxia» entsprechen, nicht einem Gott.

Tianxia ist eine Welt der Inklusion aller möglichen Welten und Werte. In diese Welt passt der Ansatz «American Leadership/ Pan America» wie auch von Joseph Nye postuliert nicht (nicht zu verwechseln mit der extremeren Position von Trump «Amerika first»). «Pan America» ist ein «Gen» in der gesamten US-Gesellschaft, von ZHAO ebenso abgelehnt wie eine «Pan Sinica».

Er beleuchtet auf philosophischer Grundlage einerseits die hegemonialen Strömungen der Grossmächte, und anderseits macht er sich auch Sorgen um die schnelle dynamische Entwicklung der Waffentechnik (A-, B- und C-Waffen, automatische von KI-Algorithmen gesteuerte Waffen inklusive Cyberwaffen und gentechnische Waffen), der KI (Künstlichen Intelligenz) und der Medizin inklusive Cyborg Techniken, die den Menschen verbessern werden. Ein globales, koordiniertes Vorgehen sei dringend.

Aus seiner Sicht verwandeln sich die westlichen Demokratien in «Publikratien». Durch die heutigen Werkzeuge der Kommunikation und Massenbeeinflussungsmöglichkeiten können Wähler und Stimmbürger durch einflussreiche Gruppen gesteuert werden. Die Qualität der Wahlen oder Abstimmungen würden sich dadurch verschlechtern. Ursprünglich beruhten die Wahlresultate in den Demokratien auf individuellen persönlich erarbeiteten Einsichten zusammen mit der Empfehlung «seiner» Partei. Heute werden diese von den Medien und cleveren finanzstarken Meinungsmachern über psychologische Verführungstechniken gekapert.  Dies steht zwar nicht im Gegensatz zur Demokratie, aber die Qualität des Resultats wird verschlechtert und wird nicht mehr im Gesamtinteresse sein. Starke mächtige Gruppen steuern die Meinungen und kidnappen die Demokratie. Die Demokratie wird zur Aussenhülle einer neuen Art von Diktatur.

Er kommt zum Schluss, dass wir eine Weltregierung brauchen, die den Namen verdient und ein System steuern kann:

Ein neues Tianxia-System hat die Probleme der heutigen Welt zu lösen, es kann daher keine Neuauflage des antiken Tianxia-Systems sein. Ein neues Tianxia-System ist kein Märchen von der allgemeinen Glückseligkeit, sondern der Versuch, ein System zu schaffen, der der Menschheit allgemeine Sicherheit und gemeinsame Nutzensteilhabe garantiert. Es ist kein neues System der Weltherrschaft, sondern ein System zum Schutz einer Welt «ohne Aussen». Es verfolgt die Absichten, eine koexistentielle Daseinsform der Welt zu sichern, die mit der Moderne entstandene exklusive Daseinsform aufzugeben und damit die Menschheit vor dem Schicksal eines völligen Scheiterns zu bewahren. 

ZHAO ist auch der Meinung, dass die westliche Gesellschaft heute von teilweise persönlichen, individuellen allgemeinen Zielen geleitet wird, die nicht von der gesamten Erdbevölkerung getragen werden und auch nicht erreichbar sind. Er nennt die folgenden Rechte für jeden Erdbewohner: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Gerechtigkeit, Güte, Frieden, grösstmöglicher materieller Reichtum, Fehlen von Ausbeutung und Unterdrückung, Klassenlosigkeit, Selbstverwirklichung, Glück für jeden. Einige widersprechen sich schon in der Aufzählung. Ähnlich wie auch in den UN-Menschrechten wird damit nur ein idealer unerreichbarer Wunschzustand beschrieben, der zudem sehr unterschiedlich interpretiert werden kann. Wer in der Pflicht steht, diese Rechte zu erfüllen, ist wohlweislich nicht festgeschrieben.

ZHAO stellt am Schluss dar, dass Tianxia keine «Pan Sinica» als Ablösung der «Pan America» sei, sondern ein Ansatz, der die heutige Welt, mit allem unter dem Himmel, in den Mittelpunkt stellt.

Es muss auf irgendeine Art und Weise die Möglichkeit geben, jegliche Kultur in die Ordnung der Koexistenz zu integrieren und auf der Basis gegenseitigen Respekts zu koexistieren und andere Formen zu tolerieren.  

Schlussbemerkung

Ich bin mir bewusst, dass der Ansatz von ZHAO Tingyang für einen, der im Westen aufgewachsen und ausgebildet wurde, ein Angriff auf einige seiner Fundamente ist. Zwei Grundpfeiler der Aufklärung werden in Frage gestellt: Individualität und Demokratie als höchstes Ziel! Ich glaube, dass andere Kulturen diese Werte in Frage stellen und anders bewerten dürfen. Bei uns nimmt die Individualität ein Ausmass an, das an von der Gesellschaft akzeptierte Grenzen stösst (besonders der Effekt, dass die Gemeinschaft die negativen Folgen von individuellen Eskapaden tragen und kompensieren muss). Auch wird im Westen vermehrt Gewalt eingesetzt, um Auswüchse der individuellen Freiheit zu bekämpfen. Ich denke an präventive Massnahmen, um terroristische Aktionen oder Gefährdung der Verfassung zu verhindern. Der Aufwand könnte so gross werden, dass die Basis der Gemeinschaft infolge Überforderung bricht. Ob die heutige westliche Demokratie die beste von allen schlechten Optionen ist kann bzw. soll immer wieder hinterfragt und ausgetestet werden. Besonders unter Berücksichtigung von ZHAOs Behauptung, dass sich die Demokratien in «Publikratien» ändern, müssen Lösungen in der Zukunft gefunden werden. Die stark fragmentierte, leicht vereinnahmbare und beeinflussbare Bevölkerung kann mittels der modernen Kommunikationstechniken von Gruppen gekidnappt und gesteuert werden.

Lassen wir andere Kulturen mit anderen Ansätzen experimentieren und lernen von deren Erfahrungen. Wir müssen es aushalten, dass eine Bevölkerung einmal nach unserem Verständnis unten durchmuss. Die Geschichte zeigt, dass Selbstregelungskräfte zu Korrekturen führen (Vietnam, Kambodscha…). Sie zeigt auch, dass auch Einflussnahmen von aussen selten zu grossen Erfolgen führen bzw. die Situation verschlimmern (Afghanistan, Irak, Libyen, …).

Druck von aussen führt zu internem Zusammenschluss der Bevölkerung, stärkt oft die Regierung und verhindert eine interne Regulierung, denken wir an Iran, Nordkorea, Venezuela. Der Westen hat seit dem 2. Weltkrieg dutzende militärische Einsätze ausserhalb der eigenen Staatgebieten durchgeführt, selten mit nachhaltigem Ergebnis. China (Vietnam, Russland, Indien) und Indien (Pakistan, China) haben es bei einigen wenigen Grenzkonflikten belassen.

Die grossen Mächte und Machtblöcke sollten den anspruchsvollen Prozess starten, ein System der globalen Koexistenz aufzubauen, der auf Toleranz und gegenseitiger Rücksichtnahme basiert. Es gibt keine Macht, die mit Gewalt die Kontrolle über die Welt übernehmen kann oder soll. Zu viele Player haben das Potential, einen allfälligen Angriffskrieg zu stoppen, was in jedem Fall global schlimme Konsequenzen hätte. Denken wir an die klassischen Armeen, die asymmetrischen Kämpfe (Guerilla und Terror), A-, B- (Pandemien) und C-Waffen, Cyberkrieg, Hochtechnologie (KI, Energie, Kommunikation, Gen-Modifikation).  Die heutige UNO und ihre Unterorganisationen haben sich in den letzten Jahren in den Machtkampf der potenziellen Weltmächte und Missionierung für westliche Werte einspannen lassen. Es braucht einen neuen vertrauensbildenden Ansatz - die Gedanken von ZHAO Tianxia können ein Anstoss dafür sein.

Literatur

Neueste Kommentare

20.05 | 16:23

Besser habe ich noch keine der vielen Erklärungen zur Blockchain Technologie und den Kryptowährungen berstanden als die obige! Vielen Dank - Ruedi

16.12 | 11:03

Lieber Bernhard - Hab Dank für diesen sehr Informativen Erfahrungsbericht! Vieles was Du beschreibst, deckt sich mit meiner eigenen Berufserfahrungen. Im In- sowie vor allem auch im fernen Ausland!

03.10 | 09:36

Super die Bilder und die Berichte. Wir verfolgen eure Reise mit Interesse. Einige Orte sind mir noch in bester Erinnerung.
Liebe Grüsse
Toni und Erika

02.10 | 08:00

Hallo zusammen. Wir lesen euren Blog mit viel Interesse da wir all die Orte auf unseren 4 Costa Rica 🇨🇷 Reisen kennengelernt haben. Ein wunderschönes Land mit prächtiger Natur. Gute Weiterreise. Lisbet